Hans Herrmann
Die Franzosenkrankheit
Ein Kleinstadtskandal
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Inhaltsverzeichnis
1. Ein tüchtiger Arzt
Die junge, zierliche Frau, deren dunkle Locken mit dem Hellblau ihres langen Rocks angenehm kontrastierten, klopfte an die Tür zum Ordinationszimmer. In der anderen Hand trug sie ein Körbchen. „Hallo, Johannes, ich bin’s, Katharina.“
„Nur herein, es ist gerade niemand bei mir“, rief eine voll tönende Männerstimme zurück.
Katharina öffnete die Tür und trat in den hellen Raum, dessen Fensterfront zum kleinen Park an der Rückseite des schmucken Herrenhauses hinausging. Durch die Scheiben schien ein sonniger Tag im Frühling des Jahres 1728.
Das Sprechzimmer des Arztes Johannes Kupferschmid präsentierte sich in zweckmässiger und ansprechender Ordnung. Für die Patienten standen ein bequemer Sessel und ein ebenso bequemes Sofa bereit. Auf hölzernen Regalen reihten sich sauber beschriftete, verkorkte Arzneiflaschen sowie kleine, mit runden Deckeln verschlossene Porzellantöpfe, und auf dem Tisch standen Tinte und Papier zum Festhalten der medizinischen Befunde bereit. Die chirurgischen Instrumente bewahrte der Mediziner in den Schubladen eines grossen Korpus auf; so blieben sie für ihren Einsatz sauber und für die ängstlichen Augen der Patienten unsichtbar. Zwei gute Landschaftsgemälde an den Wänden sorgten, soweit dies in einer Arztpraxis überhaupt möglich ist, für eine stubenartig behagliche Atmosphäre.
Der 37-jährige Arzt hatte ebenmässige Gesichtszüge; seine Augen blickten freundlich, und den hygienisch kahl geschorenen Schädel überzog bereits wieder ein Hauch von dicht nachwachsenden blonden Stoppeln. Die Allongeperücke, die er nur trug, wenn er sich in den Gassen zeigte oder an den Sitzungen des Kleinen Rats teilnahm, hing wie ein schlaffer, wattiger Beutel am Kleiderhaken neben der Tür.
Katharina stellte das Körbchen auf den Tisch und entnahm ihm ein kleines, in Wachspapier eingeschlagenes Paket, das sie ihrem Gatten überreichte.
„Hier, Johannes, hast du den Tabak. Es ist Ware aus Amerika, wie du verlangt hast, nicht Berner Eigengewächs.“
„Danke, Katharina. Und ja, ich lege Wert auf Tabak aus Amerika, er ist als Medizin viel wirkungsvoller als die kraftlosen Stauden, die die Gnädigen Herren von Bern neuerdings bei Murten anbauen lassen. Die wollen das Geschäft mit dem begehrten Rauchkraut halt lieber selber machen, als es den Kolonialwarenhändlern zu überlassen. Aber richtig gut gedeiht der Tabak nur auf amerikanischem Boden, davon bin ich felsenfest überzeugt.“
„Der Apotheker Lüdy auch, aber zuerst behauptete er, er hätte keinen Tabak aus Übersee“, erwiderte Katharina. „Dann bat er mich jedoch, einen Moment zu warten, vielleicht könne er mir trotzdem helfen. Als alle anderen Kunden bedient und wir allein waren, zog er aus einer versteckten Schublade dieses Päckchen mit amerikanischem Tabak hervor und gab es mir mit verschwörerischer Miene, als täte er etwas Verbotenes. Er sagte auch, er schenke mir den Inhalt. Er verkaufe mir nur die Verpackung, dafür zu einem teureren Preis, als sie wert sei. Seltsam, nicht?“
Kupferschmid lachte. „So seltsam nun auch wieder nicht. Er darf dir keinen Tabak aus Amerika verkaufen, weil unsere Regierung beschlossen hat, nur das eigene Kraut am Markt zuzulassen, diesen faden Murtenkabis. Deshalb hat er dir die verbotene Ware umsonst gegeben, den Preis aber über die Verpackung hereingeholt, der schlaue Fuchs.“
Nun lachte auch Katharina. Bald aber wurde sie wieder ernst. „Der Lüdy ist uns gut gesinnt, andere sind es weniger“, sagte sie.
Ihr Mann horchte auf. „Hast du dir wieder spitze Bemerkungen anhören müssen?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Das nun nicht gerade. Aber ein paar Kundinnen bei Lüdy haben mich schon sehr unterkühlt behandelt und mich kaum gegrüsst.“
„Diese vernagelten Sturköpfe hier in diesem dumpfen Kaff“, entfuhr es dem Arzt. Dazu schlug er kräftig auf den Tisch. Dann beruhigte er sich wieder, aber seiner Stimme war die Empörung noch immer anzuhören. „Wir leben hier wirklich nicht gerade unter besonders weltoffenen Leuten. Wenn wir aber Geduld haben, werden wir zu den Gewinnern gehören“, sagte er. „Ein neues Zeitalter bricht an, neue Gedanken und Vorstellungen breiten sich aus, damit haben viele unserer Mitbürger noch ihre liebe Mühe. Nach und nach werden sie sich aber damit anfreunden, denn die neuen Ideen bringen viel Licht ins Leben der Menschen. Gib uns hier noch zehn Jahre, dann wird man uns für unsere aufgeklärte Gesinnung nicht mehr ächten, sondern feiern.“
„Ach, wenn du doch nur recht hättest“, seufzte Katharina. „Mir ist es hier in diesem Städtchen einfach zu eng. In Bern oder Solothurn würde es mir viel besser gefallen, da sind die Leute dem Neuen schon heute zugetan.“
„Davonlaufen ist meine Sache nicht“, sagte ihr Mann. „Wir haben die Praxis und die Klinik hier aufgebaut, das wollen wir doch nicht einfach so aufgeben. Du wirst sehen, in ein paar Jahren werden die Leute schon ganz anders über uns und unsere Heilmethoden denken. Wer weiss – vielleicht werden wir sogar berühmt, und die Patienten kommen nicht nur aus der näheren Umgebung, sondern auch aus Genf, Paris und Moskau nach Burgdorf, um sich von mir behandeln zu lassen!“
Katharina quittierte es mit einem Lächeln und strich ihrem Gatten leichter über die Schläfe.