Hedwig Courths-Mahler
Das Gänsemädchen von Dohrma
Liebesroman
e-artnow, 2022
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EAN 4066338123145
Inhaltsverzeichnis
6. Kapitel. Vor der Katastrophe.
7. Kapitel. Die Lebensretterin.
8. Kapitel. Die neue Gutsherrn.
9. Kapitel. Wie gewonnen — so zerronnen.
11. Kapitel. Glücklich vereint.
1. Kapitel.
Im Armenhaus.
»Mutterle, mein liebes, gutes Herzensmutterle, hast Du wieder so arge Schmerzen? Soll ich Dir Deine Medizin geben, damit Du schlafen kannst?«
Die kranke Frau im Bette holte mühsam Atem und sah mit einem wehen, jammervollen Blick in das ängstlich besorgte Gesicht ihres Kindes, eines etwa elfjährigen Mädchens.
»Nein, mein Marthchen, laß nur, es hilft ja doch nichts mehr; hab’ ja schon soviel Medizin geschluckt. Ach, die Schmerzen, die Schmerzen! Aber nein, nicht weinen, meine Martha, nicht weinen, das tut mir noch viel weher als alle Schmerzen, das kann ich nicht ertragen!«
Martha schluckte tapfer die Tränen hinunter und zwang sich, zu lächeln.
»Ich weine ja nicht, Mutterle, schau nur, schon lach ich wieder. Gelt, nun ist Dir ein klein wenig besser? Und nun wirst Du ganz gewiß bald wieder gesund. Es hat schon so arg lange gedauert, Deine Krankheit — solange — ach, ich weiß gar nicht mehr, wie es war, als Du noch nicht so lahm und krank im Bette lagst!«
Die Kranke nickte wehmütig und sorgenschwer.
»Kaum weiß ich’s selbst noch, mein liebes Kind. Viel, viel zu lang lieg’ ich auf meinem Schmerzenslager, wo ich Euch nur eine Last bin. Meine böse Krankheit hat all unseren früheren Wohlstand aufgezehrt. Vaters Stellmacherei bringt so gut als nichts mehr ein. In der Sorge um mich hat er sein Geschäft vernachlässigen müssen, und sein früherer Geselle nimmt ihm nun alle Kundschaft weg, weil er jünger und schneller ist, und billiger.
Seit er sich als Vaters Konkurrenz hier niedergelassen hat, geht es mit Riesenschritten abwärts mit uns. Und in Haus und Hof — lieber Gott im Himmel, da geht alles drunter und drüber, ich fühle es, wenn ich’s auch nicht sehen kann!«
»Ach, mein Mutterle, sorg’ Dich doch darum nicht, Das kommt alles wieder in die Reihe, wenn Du gesund bist!« sagte Martha liebreich tröstend und streichelte zärtlich die blassen Wangen der Mutter.
»Nein, nie mehr kann das wieder gut werden, mein liebes Kind. Jahrelang lieg’ ich gelähmt auf meinem Lager, seit ich mir damals nach der Überanstrengung bei der Ernte die schlimme Erkältung zugezogen habe. Ich wollte immer alles selber tun, wollte mit Vater zusammen voranstreben, damit es unsere Kinder besser haben sollten als wir.
Und es war bis dahin alles so gut gegangen, wir kamen voran mit jedem Tag. Aber es sollte nicht so weiter gehen. Mit meiner bösen Krankheit fing das Unglück an. Das war der erste Schlag, der uns traf. Und ich muß hier liegen wie ein Stück Holz und muß zusehen, wie alles um mich her in Trümmer geht. Ich kann nicht mehr schaffen und arbeiten, und meine Krankheit kostet soviel Geld. Alles ist aufgebraucht, was wir durch jahrelangen Fleiß erworben haben.
Die Haushälterin, die Vater ins Haus nehmen mußte, sieht nur auf ihren Vorteil, nicht auf den unseren Vater hat auch allen Mut verloren, seit uns das zweite Unglück traf, seit Dein Bruder, unser Gustävle, beim Baden im See ertrank. Da hatte er keine Lust mehr am Schaffen, und das machte sich der Geselle zunutze und machte selbst eine Stellmacherei auf.
So gings schnell bergab mit uns, und Vater ist über all das Unglück ganz tiefsinnig geworden. Ach, womit haben wir all dies Elend verdient!«
Martha Berger konnte nun ihre Tränen nicht mehr zurückdrängen, aber sie barg ihr Gesicht in dem Kissen der Mutter.
»Mein armes, liebes Mutterle, wenn ich doch helfen « könnte, wenn ich doch groß wäre und alles wieder gut machen könnte!« sagte sie, halberstickt von Tränen.
Die Mutter streichelte matt und unbeholfen mit der gelähmten Hand das schöne, goldblonde Haar ihres Kindes.
»Mein Marthchen, wenn mich die Angst und Sorge um Dich nicht am Leben erhielte, dann möchte ich wohl meine Augen für immer schließen und ausruhen von allem Elend und allen Schmerzen. Aber ich sorge mich , so sehr um Dich, um Deine Zukunft. Der Gedanke, was aus Dir werden soll, läßt mir Tag und Nacht keine Ruhe.
Das Gustävle ist ja nun im Himmel bei den lieben Engeln, um ihn brauch ich mich nicht mehr zu sorgen Aber Du! Du solltest, so dachte ich mir immer, etwas Tüchtiges lernen, Lehrerin solltest Du werden. Der Herr Lehrer hat uns so oft gesagt, wie klug und fleißig Du bist, wie schnell Du lernst und begreifst. Aber dazu fehlt es uns nun an Geld.«
»Wir haben ja weiter nichts als Schulden, furchtbare, drückende Schulden, und nicht ein Stein von diesem Hause gehört uns mehr. Wenn ich mich doch nicht so schrecklich um Dich sorgen müßte! Was soll aus Dir werden?«
Martha erhob sich, mühsam ihre Fassung erzwingend.
»Sorg’ Dich doch nicht, Mutterle! Wart nur, wenn ich erst groß bin, wenn ich erst konfirmiert bin, dann schicken wir die Haushälterin fort und dann schaffe ich an Deiner Stelle fleißig von früh bis spät. Vater wird sich dann auch schon wieder aufrappeln. Wir hegen und pflegen Dich dann zusammen, sollst schon wieder Freude am Leben haben. Es muß doch einmal wieder alles besser werden, daran glaube nur. Der liebe Gott verläßt uns nicht!«
Die Kranke schloß, von Rührung überwältigt, die Augen und tastete nach der Hand ihres Kindes.
»Mein Marthchen, mein liebes, gutes Marthchen, ich wollte gern alle Not und Schmerzen tragen, wenn ich nur über Dein Schicksal beruhigt wäre!«
Martha richtete sich straff auf und reckte ihren jungen, kräftigen Körper und ihre festen, runden Arme. Kampfesmutig blitzten ihre Augen.
»Da, schau her, Mutterle, wie groß und stark ich schon bin. Hab doch keine Angst um mich, ich find mich schon durchs Leben. Du sollst Dich nicht sorgen, um nichts, um gar nichts, sagt der Herr Doktor. Mußt ihm auch folgen, sonst kann er Dich nicht wieder gesund machen. Gelt, Du tust es mir zuliebe und sorgst Dich nicht mehr. Glaub doch d’ran, daß noch alles wieder gut wird.