Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Christoph Ramm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300212
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      Hans-Christoph Ramm

      Lesen im dritten Lebensalter

      Erfahrungen transitorischer Identität bei der Lektüre britischer Romane

      A. Francke Verlag Tübingen

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      © 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      www.francke.de[email protected]

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

      ePub-ISBN 978-3-8233-0021-2

      

      „Mündigkeit lässt sich nicht befehlen, sie muss gewählt werden.“

      Susan Neiman

      „Meine Identität gehört erst dann zu mir, wenn ich sie akzeptiere, was prinzipiell Raum für Verhandlungen mit meiner Umwelt, meiner Geschichte und meinem Schicksal öffnet.“

      Charles Taylor

      

      Danksagung

      Dieses Projekt geht von einer Initialzündung aus, die durch eine erneute Lektüre von Milan Kunderas Essay Die Kunst des Romans im Zusammenhang mit seinem faszinierendem Werk Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins entstand. Das Projekt, das eine Forschungslücke schließen möchte, ist von vielen Menschen begleitet und intellektuell gefördert worden. Als erstes gilt mein Dank meiner Frau, Rudi Helena van der Ploeg, deren niederländischer Pragmatismus und Witz mich stets über Wasser gehalten und mich kritisch durch alle Phasen des Forschungs- und Schreibprozesses begleitet haben. Mein Dank gilt auch meiner Tochter Verena Bérénice, die wie eine Verbündete Fassungen meines Manuskripts gelesen, Einwände formuliert und Korrekturvorschläge gemacht hat. Vor allem hat sie mir aus technischen Unbeholfenheiten mit Computer und Laptop herausgeholfen. Danken möchte ich auch Frau Elena Gastring, Lektoratsvolontärin beim Gunter Narr Verlag, die mit Humor und Geduld den Produktionsprozess meines Buches unterstützt und begleitet hat. Die Frauen wissen, wie sehr mir die Vermittlung von Kultur und Literatur in der heutigen hybriden Kultur am Herzen liegt. Für die Gelegenheit, eine Vorstudie zu diesem Projekt, zur Erzählkunst Franz Kafkas, zur Filmkunst Charlie Chaplins und zur bildenden Kunst Edvard Munchs beim Germanistentag in Kiel 2014 vorstellen und dann publizieren zu können, bin ich Frau Professor Dr. Ina Karg zu herzlichem Dank verpflichtet. Kreative Impulse zu meinem Buch kamen auch aus persönlichen Gesprächen mit Herrn Professor Dr. Helmut Viebrock sowie von Seminaren Herrn Professor Dr. Hermann Schweppenhäusers und Gesprächen mit ihm zu Franz Kafka und Walter Benjamin. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Thomas Rentsch, der mich ermuntert hat, meinen Ausführungen auf der Spur zu bleiben. Herrn Professor Dr. Lothar Bredella und Herrn PD Dr. Christoph Schöneich, mit denen mich auf ganz unterschiedliche Weise ein freundschaftliches Band über Jahrzehnte hin verknüpft hat, danke ich in Verbundenheit. Ebenso bedanken möchte ich mich bei den Teilnehmer/innen meiner Seminare an der Universität des 3. Lebensalters/Frankfurt/M. Sie haben mit ihren kreativen Deutungen einige wichtige der hier vorgelegten Aspekte, beispielsweise zu unglaubwürdigen Stellen in Charles Dickens‘ frühem Roman Oliver Twist oder zu Emily Brontës kniffligen Roman Wuthering Heights möglich werden lassen.

      Ich widme dieses Buch dem Andenken meines früh verstorbenen Vaters, Dr. phil Dr. med. Hans Ramm (1920 bis 1956), der über Kierkegaard promovierte und als junger Augenarzt in Frankfurt/M die Greuel des Russlandfeldzuges im Zweiten Weltkrieg in den ersten Jahren der Nachkriegszeit gesundheitlich nicht überlebt hat.

      

      Vorwort

      Impulse zu den folgenden Ausführungen gaben Milan Kunderas Deutungen des modernen Romans. Kundera versteht den modernen Roman als narratives Experiment, das seit Beginn der Moderne mit imaginativen Möglichkeiten und Potenzialen transitorischer Identität spielt, die Gemüter seiner Leser/innen erregt und zum deutenden Diskurs immer erneut herausfordert.1 Lesen, so Sartre, ist gelenktes Schaffen.2 Dieser Spur folgen wir an ausgewählten Romanen Großbritanniens, die nicht nur zu den Meisterwerken der Weltliteratur zählen, sondern trotz der Unterschiede zwischen dichterischen Texten des 19. Jahrhunderts in Europa3 „als großartige Märchen“4 der Moderne anzusehen sind.

      Bei der Lektüre wird es um eine kultursemiotische und rezeptionsästhetische Erschließung von Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist, Charlotte Brontës Roman Jane Eyre, Emily Brontës Roman Wuthering Heights und Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway gehen. Diese Romane wurden im Fachbereich Neuere Philologien/Anglistik der Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt/M in gelenkten Seminaren mit Rezipient/innen des dritten Lebensalters (den heute 65- bis etwa 80jährigen) erschlossen, reflektiert und besprochen.

      Als große Erzählkunst sind die Romane repräsentativ für das in der Moderne seit Beginn der europäischen Romantik geprägte Geschichtsbewusstsein und die „bis dahin nie gekannte Betonung menschlicher Subjektivität.“5 Rezipient/innen des dritten Lebensalters sind in sensibler Wahrnehmung hoch interessiert am Gründungsmythos der Moderne, der sich an kulturgeschichtlichen Fragen „Woher wir kommen“6 und wer wir im dichten Gewebe divergierender und überfordernder Rollenanforderungen, Konflikt- und Entscheidungssituationen heute sind, entfalten lässt.7 In einer globalisierten, disparaten und vernetzten Medienwelt, in der Distanzen aufgehoben werden, weckt die Lektüre der Romane den Wunsch, sich mit mythopoetischen Erzählwelten, die moderne Romane seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis hin zu James Joyce, Döblin, Thomas Mann selbstreflexiv gestalten,8 auseinanderzusetzen. Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne entwerfen Varianten einer Poetik des Weltleidens. Sie eröffnen fremde, narrativ eigengesetzliche Welten, evozieren Widerstand und Utopie, an denen sich Wirklichkeit gegenbildlich bricht. Ihr enigmatisch Politisches fasziniert.

      Die These, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist die, dass Werke der Literatur, der bildenden Kunst und Musik seit der frühen Neuzeit transitorische Identitätserfahrungen moderner Subjektivität ästhetisch gestalten. Im Bereich der Literatur entstehen kontingenzästhetische Erzählmuster, die als Kulturdiagnosen erschlossen werden können. Rezipient/innen des dritten Lebensalters werden in auffallender Weise von komplexen Erzählmustern affiziert, die die Subjektfrage der Moderne in emotional evokativen Erfahrungsräumen verhandeln. Die Erzählwelten stellen Individuen in ihren Mittelpunkt und beleuchten in gesellschaftkritischen Gegenperspektiven Kehrseiten der Vernunft. Als Antithesis sind sie immanent mit der Negativität des Weltlaufs, den sie verneinen verknüpft: „Keine Kunst, die nicht negiert als Moment in sich enthält, wovon sie sich abstößt.“9 Das Faszinosum liegt in diesem Doppelcharakter, der auf die komplexe Motivlage der Rezipient/innen des dritten Lebensalters trifft.

      Der Gründungsmythos der Moderne begann als romantische Bewegung „mit Young in England, in Frankreich mit Rousseau und in Deutschland mit dem Sturm und Drang“.10 Trotz aller Unterschiede setzten sich bildende Künstler, Komponisten, Schriftsteller und Philosophen in Europa mit dem Anbruch einer neuen Zeit, mit der Französischen Revolution und Napoleon auseinander:

      Schon bei Fichte, noch nachdrücklicher bei Hegel und Schelling, tritt ein Gedanke in den Vordergrund, der das 19. Jahrhundert bestimmen wird: daß selbst die Grundbegriffe und Argumentationsmuster von Erkennen und Handeln geschichtlich bedingt sind (‚Geschichtlichkeit‘).11

      Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten forderten Freiheit von der klassizistischen Tradition; parallel dazu forderten Philosophen politische Emanzipationsmöglichkeiten: in konservativer