KAI PANNEN
INHALT
UNTERGEHENDE WELTEN
»Schroff und majestätisch erheben sich die mächtigen Hänge aus den unergründlichen Tiefen. ›La isla dolce‹, die süße Insel, wie sie von alters her im Volksmund genannt wird, die Heimat unzähliger Generationen von Inselbewohnern.«
Flo saß am Küchentisch und kommentierte gedankenverloren den Lauf der Dinge. »Aber nichts besteht für die Ewigkeit. Auch Felsen brechen mit der Zeit, mächtige Berge werden vom Wind abgetragen, ganze Inseln versinken im Meer. Da, die ersten Hänge lösen sich und rutschen unter lautem Getöse in die Tiefe. Sie reißen alles und jeden mit sich ins Verderben. Ganze Völker und Zivilisationen wurden so schon vom Schicksal verschlungen …«
»Was brabbelst du denn da vor dich hin?«, fragte Heidi abschätzig.
Flo fuhr erschrocken hoch und sah seine Schwester in der Küchentür stehen. »Ich betrachte das Werden und Vergehen einer Insel inmitten eines stürmischen Ozeans«, ließ er sie wissen.
»In einem Kakaobecher, der Herr Professor?« Heidi betrachtete mitleidig lächelnd ihren Bruder.
Flo stöhnte. Konnte seine ignorante Schwester nicht einmal einen kleinen Funken Fantasie aufbringen? »Klar, in einem Kakaobecher«, sagte Flo. »Ich hab gerade drei Löffel Kakaopulver auf die Milch geschüttet. Guck, sieht aus wie eine Felseninsel mit schroffen Vulkanbergen. Stell dir mal vor, wie dort an den steilen Hängen tropische Urwälder wachsen, Dörfer und Straßen entstehen. Für uns innerhalb von Sekunden, die für die winzigen Bewohner Jahrtausende bedeuten. Vielleicht leben wir ja selber auf so einer Kakaoinsel in einem riesigen Becher.«
Heidi schüttelte den Kopf. Das war typisch ihr Bruder. In einem Kakaobecher die Erde untergehen sehen! »Es ist Kakao. Du solltest ihn einfach umrühren.« Dann schnappte sie sich den Becher und nahm einen großen Schluck.
»Hey, das ist meiner!«, empörte sich Flo.
Woraufhin Heidi genüsslich den Rest austrank. Sie wischte sich über den Kakaomund und gab einen lauten Rülpser von sich.
In diesem Moment kam Gianna, Heidis beste Freundin, zur Tür herein. »Ups, stör ich euch beim Streiten?«
»Ich habe gerade eine ganze Welt verschluckt, samt Bewohnern und allem, was sonst noch dazugehört.«
»Hört sich ja lecker an. Aber hat bestimmt ’ne Menge Kalorien.« Gianna sah Heidi fragend an. »Und sonst so? Alles okay? Unser Kurs geht gleich los, bist du so weit?«
»Bist du zum Klettern nicht ein bisschen zu gestylt?«, fragte Heidi.
Gianna fuhr sich durchs Haar. »Wieso? Ist doch wie immer.«
»Ach ja, der Lennart«, hauchte Heidi mit einem übertriebenen Seufzer und fing an zu kichern.
»Lass das! Außerdem geht das deinen kleinen Bruder überhaupt nichts an.« Gianna drehte sich zu Flo um. »Wie wärs, Flo, willst du nicht lieber spielen gehen?«
»Eure Gesprächsthemen sind mir ohnehin zu banal!«, sagte er so herablassend wie möglich. »Ich hab Wichtigeres zu tun.«
»O ja, zum Beispiel in einen Kakaobecher starren«, lästerte Heidi.
»Das sind Studien für meinen Aufsatz zum Thema Erosion. Falls ihr überhaupt wisst, was das ist.«
Wenn Heidi und Gianna zusammen waren, ekelten sie Flo meistens fort. Da zog er es vor, selbst das Feld zu räumen, unter dem Vorwand, sich seinen Hausaufgaben zu widmen.
Er stapfte lautstark die Treppe hinauf, ging aber nicht in sein Zimmer, sondern schlich leise eine Etage höher. Dummerweise knarrte die eine Stufe der alten Holztreppe zum Speicher so laut, dass es bis nach unten zu hören war.
»Wolltest du nicht Hausaufgaben machen?«, rief Heidi aus der Küche.
»Geht dich doch