Geschichte im politischen Raum. Hilmar Sack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hilmar Sack
Издательство: Bookwire
Серия: Public History - Geschichte in der Praxis
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846346198
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      Hilmar Sack

      Geschichte im politischen Raum

      Theorie – Praxis – Berufsfelder

      Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG

      A. Francke Verlag Tübingen

      © 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      www.francke.de • [email protected]

      Print-ISBN 978-3-8252-4619-8

      ePub-ISBN 978-3-8463-4619-8

      

      Für diesen Titel liegen Zusatzmaterialien vor, die Sie unter folgendem Link abrufen können: www.utb-shop.de/9783825246198.

      

      1 Einleitung

      „Die Erinn’rung ist eine mysteriöse

      Macht und bildet die Menschen um.

      Wer das, was schön war, vergißt, wird böse.

      Wer das, was schlimm war, vergißt, wird dumm.“

      (Erich KästnerKästner, Erich, „In memoriam memoriae“)

      1989 provozierte Francis FukuyamaFukuyama, Francis mit einer steilen These: Angesichts des Niedergangs des realexistierenden Sozialismus prognostizierte der amerikanische Politikwissenschaftler im Siegeszug des Liberalismus mit seinen westlichen Ordnungsmodellen Demokratie und Marktwirtschaft die Überwindung aller weltpolitischen Widersprüche, mithin das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1989). Im Gegensatz dazu gab zwei Jahrzehnte später der große Liberale Lord Ralph DahrendorfDahrendorf, Ralph (1929–2009) einem Sammelband seiner seit 1989 publizierten Essays den Titel „Der Wiederbeginn der Geschichte“ (Dahrendorf 2004). Dahrendorf sah gerade im Systemgegensatz des Kalten Krieges – Ost gegen West – den Geschichtsverlauf zu einem künstlichen Stillstand gekommen und erst mit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs den historischen Prozess wieder machtvoll neu beginnen. 1989 – Ende oder Anfang? Die revolutionären Veränderungen in Mittelost- und Osteuropa verlangten nach historischer Einordnung und inspirierten zu gänzlich unterschiedlichen Interpretationen. Vieles, was bislang gegolten hatte, galt nun nicht mehr. Solche historischen Aneignungsprozesse sind eminent politisch. Denn, um KästnersKästner, Erich Eingangsverse aufzugreifen: Was war eigentlich schön und was war schlimm? Was soll warum erinnert, was besser vergessen werden? Welche Erinnerung hilft weiter, welches VergessenVergessen macht blind und führt womöglich in die Katastrophe – und vor allem: Wer bestimmt darüber?

      Geschichte und Politik sind untrennbar aufeinander bezogen, sie sind miteinander ‚verwoben‘, wie der Politikwissenschaftler Werner WeidenfeldWeidenfeld, Werner (1987, 13) formuliert: „Geschichte konstituiert Politik – und Politik konstituiert Geschichte.“ Das vorliegende Buch stellt dieses „doppelte Bezugsverhältnis“ (WolfrumWolfrum, Edgar 2010, 21) ins Zentrum. Es thematisiert damit die politische Dimension der Angewandten Geschichte/Public History – ein potentiell uferloses Thema, das Begrenzung erfordert. Deshalb bleiben die großen, politisch wirkmächtigen Interpretationen der Geschichtsphilosophie, wie etwa der Historische Materialismus, unberücksichtigt; und auch eine Einführung in die politische Ideengeschichte wird ausgespart. Es ist zudem unvermeidlich, sich in Zeit und Raum zu begrenzen: Der Fokus liegt auf der Zeitgeschichte und es wird vorrangig eine nationale, nämlich deutsche Perspektive eingenommen – allerdings um dort zeitlich auszuholen und auf andere Länder oder transnationale Prozesse zu verweisen, wo dies sinnvoll oder notwendig ist.

      An mehreren deutschen Universitäten haben sich im Hinblick auf Angewandte Geschichte/Public History Studienangebote etabliert, die mit Hilfe von Theorien und Forschungsansätzen der Fachwissenschaft die Studierenden in praxisorientierter Ausbildung darauf vorbereiten, Geschichte zu vermitteln – sei es in MuseenMuseen, im Tourismus oder in den Medien. Die politische Dimension der Geschichte, also Fragen von ErinnerungskulturErinnerungskultur und GeschichtspolitikGeschichtspolitik, stehen überall auf den Lehrplänen, sie zählen zum Basiswissen der Absolventen – und sie werden folglich auch in diesem Buch thematisiert. Der politische Raum als ein eigenes Praxisfeld der Geschichtsvermittlung – und damit nicht zuletzt als ein potentielles Berufsfeld für Historiker – bleibt demgegenüber in den Curricula unterbelichtet. Dieses Lehrbuch, das sich an interessierte Studierende in Bachelor- und Master-Studiengängen richtet, soll den Grundbestand im Werkzeugkasten des künftigen Geschichtsvermittlers im politischen Raum erweitern, es dient der Praxisorientierung zwischen Fachwissenschaft und einschlägigen Berufsfeldern.

      Im Zentrum stehen (kultur-)politische Handlungsbereiche, für die geschichtliche Erfahrung Bedeutung hat oder die direkt auf unsere Vorstellung von Geschichte einwirken. Wenn dabei vom ‚politischen Raum‘ gesprochen wird, dann deshalb, um den Blickwinkel nicht auf die Politik zu verengen, mit der gemeinhin der Staat und seine politischen Akteure in Regierung, Verwaltung und Parlament gemeint sind. Der politische Raum konstituiert sich vielmehr im Zusammen- und Gegenspiel einer Vielzahl von Akteuren, zu denen neben den Repräsentanten und Institutionen des Staates sowie den politischen Entscheidungsträgern unter vielen anderen auch Medien, Wissenschaft und Vertreter aus der Zivilgesellschaft gehören.

      Die Themen

      Geschichte ist en vogue. War das schon immer so? Und warum ist das eigentlich heute so? Detaillierter gefragt: Was wurde bzw. was wird erinnert, welche Vergangenheit erweist sich – bei wem und zu welchen Zeiten – als politisch anschlussfähig und ist noch immer aktuell? In diesem Kontext ist der schillernde Begriff ‚ErinnerungskulturErinnerungskultur‘ allgegenwärtig und zählt längst zum Grundwortschatz der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Er verweist auf transdisziplinäre Forschungsansätze der Wissenschaft, die sich seit einigen Jahrzehnten intensiv mit dem individuellen und kollektiven GedächtnisGedächtniskollektives befassen. In einem ersten Abschnitt werden zentrale Theorien vorgestellt und Sichtachsen durch das Geflecht einer verwirrenden, quasi-babylonischen Begriffsvielfalt geschlagen: vom kommunikativen und kulturellen GedächtnisGedächtniskulturelles über politische MythenMythos, politischer und ErinnerungsorteErinnerungsorte bis zum GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein, der Vergangenheits- und/oder GeschichtspolitikGeschichtspolitik (→ Kapitel 2).

      Öffentliches Erinnern und Gedenken unterliegen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Welche (geschichts-)politischen Implikationen ergeben sich daraus? Dies wird an drei Beispielen diskutiert: der EuropäisierungEuropa und GlobalisierungGlobalisierung, der Zuwanderung sowie der Folgen des Aussterbens der Generation von ZeitzeugenZeitzeuge des NationalsozialismusNationalsozialismus (→ Kapitel 3).

      Die Geschichte an sich gibt es nicht; es gibt tote, ‚kalte‘ Vergangenheit, die erst im Zugriff der Gegenwart zur lebendigen, politisch ‚heißen‘ Geschichte wird. Im Kontrast zu Diktaturen, in denen die Propaganda gewünschte Geschichtsbilder diktiert, vollzieht sich die Verständigung über die Geschichte in pluralistischen, demokratischen Gesellschaften im Widerstreit unterschiedlicher Erinnerungen und konkurrierender Vorstellungen von der Vergangenheit; es herrscht ein permanenter Deutungskampf, ein Wettstreit der Geschichtsbilder. Zentrale Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit aus den letzten Jahrzehnten werden exemplarisch vorgestellt (→ Kapitel 4). Neben diesen Geschichtsauffassungen, die sich diskursiv herausgebildet haben, werden historische Repräsentationen benannt, in denen sich staatliche Vergangenheitsbezüge materialisieren: im GrundgesetzGrundgesetz etwa, in den Staatsymbolen oder – hier nicht selten kontrovers diskutiert – in der Staatsarchitektur (→ Kapitel 5).

      Geschichte ist heute längst nicht mehr alleine eine Disziplin der wissenschaftlichen Experten. Dieses Lehrbuch weist deshalb vom Höhenkamm wissenschaftlicher Debatten den Weg immer auch in die vermeintlichen Niederungen des Feuilletons und vor allem der praktischen Politik als potentiellem Berufsfeld für den angehenden Historiker. Das eigentliche politische und staatliche Handlungsfeld im Bereich der ErinnerungskulturErinnerungskultur ist die Gedenkpolitik. Sie wird vor